Marie Carstens (1861 – 1956)

Am 02. März 1919 fand in Neumünster die erste demokratische Wahl zur Stadtverordnetenversammlung unter Beteiligung der Frauen statt. Mit ihrer Wahl in dieses Gremium wurden die Sozialdemokratin Marie Carstens und   Linny Claudius von der Deutschen Demokratischen Partei (DDP) zu Frauen der ersten Stunde in der Kommunalpolitik und damit zugleich zu Wegbereiterinnen für nachfolgende Frauen.    

Marie Carstens, geborene Ehlers, wurde am 01. März 1861 in Fitzbek im Kreis Steinburg in einfachen Verhältnissen geboren. Sie war nach der Schulzeit zunächst in der Landwirtschaft beschäftigt. Im Februar 1883 heiratete sie knapp 22jährig den Maurer Hinrich Carstens und zog mit ihm nach Neumünster.  Sie wurden eine Familie mit zwei Söhnen, August und Wilhelm.

Es war eine hochpolitische Zeit, als die Eheleute Carstens 1883 ihr Familienleben begannen. Das Bismarcksche Sozialistengesetz war 1878 in Kraft getreten. Die auch in Neumünster seit den 1850er Jahren aufstrebende Arbeiterbewegung wehrte sich vor Ort gegen staatliche Verbote, Schikanen und Zurückdrängung mit kreativen - teils auch gefahrvollen Aktionen -  aus der Illegalität heraus. Vor dem Hintergrund dieser politischen und gesellschaftlichen Situation begann Marie Carstens sich zu politisieren und trat an ihrem 24. Geburtstag, am 01. 03. 1885, in die SPD ein; in der SPD waren Frauenmitgliedschaften bereits möglich.   In der „Volkszeitung“ wurde anlässlich ihres Todes im Jahre 1956 berichtet, dass ihr Mann sie in die Arbeiterbewegung eingeführt und sie sich schon früh als Leiterin in einem Bildungsverein für Frauen und Mädchen engagiert habe.  

Die folgenden Jahre waren für sie geprägt von politischen Aktivitäten wie sie typisch sind, wenn aus der Illegalität heraus agiert werden muss. Dazu gehörte, gemeinsam mit anderen Frauen, vor anstehenden Wahlen das gefährliche, verbotene und mit empfindlichen Strafen bedrohte Verteilen von Flugblättern zur Unterstützung von Kandidaten der Arbeiterbewegung, Aufklärungsarbeit in Streiksituationen, Hintergrundhilfe bei unterschiedlichen Parteiaktionen und anderes mehr. Diese Form der mühsamen politischen Arbeit setzte sich auch in der Zeit nach dem Ende des Sozialistengesetzes (1890) fort, da die Verfolgungs- und Unterdrückungsmaßnahmen des Staates auf der Grundlage des preußischen Vereinsrechts noch bis 1908 andauerten.

Der Einsatz von Marie Carstens und weiteren Frauen in dieser Zeit ist umso bemerkenswerter, als ihnen formal jede aktive und passive politische Betätigung oder Beteiligung verboten war. Sie zeigten Mut und nahmen die Möglichkeit von Verhaftungen und Bestrafungen bewusst in Kauf.

Während der Zeit des 1. Weltkrieges gehörte sie zu den Frauen, die sofort nach Kriegsbeginn Verantwortung im sozialen Bereich übernahmen. Schon kurz nach Kriegsbeginn wurde am 21. 08. 1914 von der Stadt Neumünster ein Zentralausschuss für die Kriegsfürsorge gebildet. Dieser Ausschuss übertrug die kriegsbedingte Fürsorge für in Not geratene Familien den hiesigen Frauenvereinen. Zur Erfüllung der damit verbundenen Aufgaben richtete man ein sogenanntes „Fürsorgeamt“ ein. Im leitenden Vorstand dieses Amtes vertrat Marie Carstens den sozialdemokratischen Frauenverein.   

Die Betreuungsarbeit vor Ort erledigten sogenannte „Bezirksdamen“.  Sie gingen in die Familien, stellten den Bedarf fest und legten dem Amt Unterstützungsvorschläge vor.  Auch Frau Carstens betreute im Bereich Fabrikstraße und Linienstraße einen dieser Bezirke. Darüber hinaus engagierte sie sich besonders für die Volksküchen. Diese zur Ernährung der notleidenden Bevölkerung eingerichteten Küchen wurden noch bis in die 1920er Jahre betrieben.

Nach Ende des 1. Weltkrieges und mit Beginn der Weimarer Republik wurde mit dem Reichswahlgesetz vom 30. Nov. 1918 das Frauenwahlrecht eingeführt. Hierfür hatten Frauen aus allen gesellschaftlichen Schichten lange und mühevoll gekämpft. Marie Carstens gehörte nach ihrer Wahl im März 1919 der Stadtverordnetenversammlung für zwei Wahlperioden   bis 1929 an, zuletzt in der Funktion als Alterspräsidentin. In der kommunalpolitischen Arbeit galten ihr Interesse und ihr Einsatz u.a. der Wohlfahrts-, Kinder- und Jugendarbeit, den Angelegenheiten des Krankenhauses sowie besonders den Arbeitszeiten und den Entlohnungen der Kochfrauen und Arbeiterinnen in den Volksküchen.

Als diese bemerkenswerte Frau 1956 im 96. Lebensjahr verstarb, endete ein engagiertes und kämpferisches Leben. Rund 45 Jahre ist sie in unterschiedlichen Funktionen politisch aktiv gewesen. Auf ihre Weise und mit ihren Möglichkeiten hat sie sich für andere eingesetzt, ist für ihre politischen und sozialen Überzeugungen eingestanden und hat für das Recht der Frauen auf Selbstbestimmung in Politik und Gesellschaft gekämpft.     

Im Jahre 2016 wurde auf Grund eines Beschlusses der Ratsversammlung im Stadtteil Faldera eine neu angelegte Straße nach Marie Carstens benannt. Damit hat sie im öffentlichen Raum einen Platz erhalten, an dem an ihr jahrzehntelanges verdienstvolles Wirken erinnert wird.

Heide Winkler
März 2021

Quellennachweis

  1. Bärbel Nagar, stellv. Leiterin der Stadtbücherei (verstorben 2004), für einen Vortrag 2003:
    a)    Vortragstext
    b)    Sterbeanzeige der Familie im HC, August 1956
    c)    https://www.spd-neumuenster.de – Marie Carstens – die erste Frau im „roten“ Rathaus
    d)    HC 30.09.1989: „Marie Carstens – die erste Frau im „roten“ Rathaus“
    e)    HC 28.09.1999: „Wahlrecht erkämpft – Erstmals zwei Frauen im Stadtparlament“
    f)    Handnotizen
  2. Rechercheergebnisse Sighild Klamt im Zusammenhang mit der Ausstellung „Frauen in der Geschichte Neumünsters“, 2014, Caspar-von-Saldern-Haus und Rathaus = siehe Text Rollup zur Ausstellung
  3. Rechercheergebnisse der Gleichstellungsstelle, Michaela Zöllner; u.a. Familienurkunden
  4. „Industriekultur in Neumünster“, Hrsg. Alfred Heggen und Klaus Tidow; S. 55 ff., hier: S. 80 in Bezug auf den Bildungsverein für Frauen und Mädchen
  5. Festschrift SPD zum 60-jährigen Bestehen 1927/Nachdruck 1987; S. 24/25 zur erstmaligen Beteiligung von Frauen an Kommunalwahlen
  6. Festschrift 125 Jahre SPD 1867 – 1992; S. 32, 34 mit Hinweisen auf Marie Carstens
  7. Wegweiser Kriegsfürsorge in Neumünster; August 1915; S. 5, 12, 14 mit Hinweisen auf Marie Carstens
  8. Stichwortreferat Johanna Werner-Muggendorf, MdL, 1998, in Bezug auf Parteimitgliedschaft von Frauen; hier Prof. Dr. A. Schaser „Partizipationsmöglichkeiten für Frauen in der Politik im 19. Jh. und frühen 20. Jh.“
  9. Ergänzend Internet