Doris und Christiane de Charles

Die beiden Pastorentöchter Doris und Christiane de Charles stammten aus einer alten französischen Adelsfamilie. Weil einem Ahnen (wohl dem Großvater der beiden) auf Betreiben der Madame de Pompadour die Ländereien entzogen worden waren, hatte er Frankreich verlassen. Er war nacheinander Prinzenerzieher in Belgien, am Dänischen und am Augustenburger Hof. Der Sohn Heinrich Peter, Vater von Doris und Christiane, kam aus Sonderburg und über Bad Segeberg nach Neumünster, wo er von 1823 bis 1837 als 2. Compastor tätig war und Hinter der Kirche 8 wohnte. Während dieser Jahre wurde die heutige Vicelinkirche geplant, gebaut und 1834 unter seiner Mitwirkung eingeweiht. Er war mit Katharina Dorothea Kaak, die in Sonderburg geboren wurde, verheiratet. Aus dieser Ehe sind drei Kinder hervorgegangen: Doris, Christiane und Georg (1823 – 1847). Der Sohn war Lehrer, starb aber kurz nach seiner Einstellung. Auch die Mädchen erhielten eine gute Ausbildung. Doris, die jüngere der beiden Schwestern, war mehrere Jahre in Frankreich und kehrte Ende der 1850er-Jahre nach Neumünster zurück. Sie lebten mit der Mutter in deren Witwenwohnung Hinter der Kirche 8.

Die Geschwister de Charles gründeten 1858 eine private Schule für höhere Töchter, obwohl schon seit 1850 die „Rewaldsche Schule“, ab 1865 von den Geschwistern Kellermann übernommen, bestand. Die Aufgaben bei der Führung der Schule waren unter den beiden Schwestern verteilt. Während sich Doris um die Erziehung und den Unterricht kümmerte, oblag es Christiane, für das leibliche Wohl der Lehrerinnen und Pensionärinnen zu sorgen. In der Schule befanden sich auch jahrelang ein Seminar und ein Kindergarten für Mädchen und Knaben. Die Mädchen, die ein Jahr lang erfolgreich das Seminar besucht hatten, waren zum Dienst in einer Schule befähigt. Doris de Charles war für die damalige Zeit eine sehr moderne Pädagogin. Sie legte Wert auf die individuelle Erziehung des Kindes gemäß dessen geistiger Entwicklung. Besonders begabte Schülerinnen durften unter ihrer Aufsicht frei arbeiten. Unter den Pensionärinnen waren auch Französinnen und Engländerinnen, die die Schülerinnen in Konversation förderten.

Nicht nur die Erziehungsgrundsätze waren fortschrittlich, es wurden auch gesundheitliche Neuerungen eingeführt. So ist im Magistratsarchiv 626 nachzulesen, dass die Abtritte, genannt „Privats“ der „Privattöchterschule der Fräulein de Charles“, neben denen von öffentlichen Gebäuden wie Bahnhof, Kaserne und Krankenhaus durch das städtische Abfuhrinstitut entsorgt wurden.

Die Schule wurde zu klein, und die de Charles stellten ein Ansuchen an den Magistrat auf „An resp Neubau“. Der Bauconsens wurde am 27. März 1871 unter einigen Auflagen erteilt. Allerdings ist hier die Adresse des Wohnhauses, in dem bis dato die Schule geführt wurde, mit Hinter der Kirche 4 angegeben

„Doris de Charles ist eine weitgereiste, feinfühlende und weltgewandte Dame“, schreibt Meta Saggau in einem Artikel über die Geschwister de Charles in „Bilder der Heimat“ vom 21. Mai 1911.

Nach mehr als 25 Jahren, in denen Christiane und Doris de Charles die Schule geführt hatten, wurde sie an Fräulein Francke übergeben. Doris de Charles war dort weiter als Lehrerin tätig. Geldmangel und persönliche Feindseligkeiten gegenüber den Geschwistern Kellermann, deren Schule wohl im Gegensatz zur eigenen subventioniert wurde, haben wahrscheinlich zu diesem Schritt geführt. Als die Schule von Fräulein Francke in die Christianstraße gegenüber dem Friedhof verlegt wurde und sich ein „unerquickliches Verhältnis“ zwischen Fräulein Francke und Doris de Charles entwickelte, verließ diese die Schule und Neumünster und ging nach Dresden, wo sie als Sprachlehrerin mehr schlecht als recht über die Runden kam. Später hatte sie „andere Arbeit (schwankend), so dass sich Not in ihrer schlimmsten Gestalt einstellte“ (Meta Saggau). Weil sich ihre geistige Gesundheit zusehends verschlimmerte, wurde sie in die Landesirrenanstalt zu Hubertusburg nach Sachsen gebracht. Dort starb Doris de Charles am 24. April 1911.

Ihrer Schwester Christiane erging es in Neumünster nicht besser. Sie stockte ihren Unterhalt, ein paar milde Stiftungen und Unterstützung durch ehemalige Schülerinnen, mit Geld durch Vermietung auf. So war sie „vor der äußersten Not geschützt“. Ihr „Geist umnachtete sich“ (Meta Saggau), und sie wurde genau wie ihre Schwester in eine Anstalt gebracht. Sie starb in der Provinzial Irrenanstalt in Schleswig.

Es bleibt an die Verdienste zu erinnern, die sich die Schwestern in einer Zeit, als das öffentliche Schulangebot noch sehr bescheiden war, auf diesem Gebiet der Bildungsarbeit erworben haben.

Über die weitere Entwicklung der beiden privaten Töchterschulen kann nachgelesen werden in den Lebensgeschichten von Bertha Rabe, der letzten Leiterin der von den Schwestern de Charles gegründeten Schule, und von den Schwestern Kellermann. Unter der Führung von Bertha Rabe wurden die Schulen 1888 zusammengelegt und bildeten so die Keimzelle für die heutige Klaus-Groth-Schule.   

Urte Grode
Januar 2018

Quellennachweise

  1. Meta Saggau, „Bilder aus der Heimat“ (Beilage zum „Generalanzeiger“) Nr. 11, 21. Mai 1911
  2. Bauarchiv der Stadt Neumünster
  3. Archiv der Vicelin Kirchengemeinde
  4. Festschrift zur Einweihung der Anscharkirche 1913; Hinweise auf den 2. Compastor der Vicelinkirche Heinrich-Peter de Charles auf Seiten 27, 34, 39, 41, 52.