Linny Claudius (1876 – 1952)

Linny Claudius und Marie Carstens waren im März 1919 die ersten Frauen, die in die Stadtverordnetenversammlung der Stadt Neumünster gewählt wurden, Frau Claudius für die Deutsche Demokratische Partei, Frau Carstens für die   Sozialdemokratie. Sie kamen gesellschaftlich und politisch aus sehr unterschiedlichen Milieus. Mit ihrer Wahl standen sie jedoch gemeinsam für das von Frauen aus allen Gesellschaftsschichten lange und mühevoll erkämpfte Recht auf gleichberechtigte politische Teilhabe. 

Das Frauenwahlrecht wurde in Deutschland mit dem Reichswahlgesetz vom 30. Nov. 1918 eingeführt, die verfassungsrechtliche Festlegung erfolgte in Art. 22 (2) der Weimarer Verfassung vom 31. Juli 1919.

Für den Bericht über das Leben der Linny Claudius waren Gespräche mit ihrer inzwischen verstorbenen Enkelin Wiebke Isernhagen, die als ausgebildete Schauspielerin den großmütterlichen Namen für die Bühne und für das Privatleben übernommen hatte, und mit ihrem Enkel Walter Isernhagen hilfreich.  Walter Isernhagen, der heute als pensionierter Lehrer in Lübeck lebt, stellte u.a. einen in seinem Besitz befindlichen handgeschriebenen Lebenslauf seiner Großmutter zur Verfügung.

Linny Claudius, geborene Jung, stammte aus Ziegenhals/Oberschlesien. Sie wurde dort am 18. April 1876 als erstes von sieben Kindern der Eheleute Friedrich und Sarah Jung geboren.
Die Familie Jung, deren Vorfahren ursprünglich Weber waren, betrieb seit 1842 in Langenbielau eine Textilmanufaktur, man hatte es zu einigem Wohlstand gebracht. Einer der Söhne, Friedrich, ging beruflich nach England und heiratete dort; seine Frau stammte aus einer Textilfabrikantenfamilie in Manchester.
Friedrich und Sarah Jung lebten zunächst in Schlesien, gingen aber 1885 mit den drei jüngsten ihrer fünf Kinder zurück nach England. Die 1876 und 1878 geborenen Töchter Linny und Else blieben bei den Großeltern in Schlesien und wuchsen zunächst bei ihnen auf.  Ab 1891 lebten sie für einige Jahre bei den Eltern und den inzwischen fünf Geschwistern in England.

Nach diesen Jahren kam Linny Jung 1897 nach Neumünster, um eine Ausbildung zur Lehrerin am hiesigen Lehrerinnenseminar aufzunehmen. Dieses Seminar gab es in Neumünster seit 1889. Es war angeschlossen an eine Privatschule für Mädchen, die ab 1896 in die Trägerschaft eines Kuratoriums übernommen und von der Stadt bezuschusst wurde.  Schule und Seminar befanden sich in der Fabrikstraße, ab Oktober 1896 in der neu erbauten Schule an der Holstenstraße.  Das Seminar bestand in dieser Form bis 1898/99.  Weitere Angaben hierzu finden sich in der Biografie über die erste Schulleiterin, Bertha Rabe.
Anzunehmen ist, dass Linny Jung mit dieser Ausbildung einer Anregung ihrer Tante Ida Glatzer, die hier als Lehrerin tätig war, folgte.  Sie nutzte damit eine der wenigen Möglichkeiten, die sich um die Jahrhundertwende 1900 für Frauen zur Berufsausübung boten. Während der dreijährigen Ausbildungszeit, die 1899 endete, wohnte sie bei ihrer Tante am Mühlenhof 3; im Adressbuch der Stadt Neumünster für 1899 ist sie unter dieser Adresse mit dem BerufsstandSeminaristin“ eingetragen.

Ihre Schwester Else ließ sich etwa zeitgleich in Hirschberg/Schlesien zur Krankenschwester ausbilden. Beide arbeiteten nach den abgeschlossenen Ausbildungen für rd. 2 ½ Jahre in Frankreich und in England.
1902 kehrte Linny Jung nach Neumünster zurück, gemeldet war sie jetzt mit der Berufsbezeichnung „Lehrerin“ in der Lindenstraße 6. Sie lernte in dieser Zeit den Pastor Wilhelm Claudius (geb. 26.05.1869) kennen und heiratete ihn am 27.04.1905 in der Gemeinde Berend im damaligen Kreis Schleswig. Er stammte aus Angeln und war seit 1900 als Geistlicher, zuletzt als 4. Compastor, an der Vicelinkirche tätig. Da Lehrerinnen damals unverheiratet sein mussten, war mit der Eheschließung die Aufgabe ihres Berufes verbunden. Es folgte für das junge Ehepaar nur eine kurze gemeinsame Zeit, bereits am 19.07.1906 starb Wilhelm Claudius plötzlich nach kurzer Krankheit. Die Ehe war kinderlos geblieben. Als Adresse ist im Beerdigungsregister der Kirchengemeinde Neumünster Roonstraße 4 eingetragen.

Etwa seit 1910, vielleicht auch schon früher, wohnte Frau Claudius zusammen mit ihrer ebenfalls nach Neumünster gezogenen Schwester Else Jung in der Färberstr. 31. Im Adressbuch findet sich der Vermerk „Pastorenwitwe“, für die Schwester die Berufsbezeichnung „Waisenpflegerin“.
Durch Vermittlung ihrer im sozialen Bereich berufstätigen Schwester entschloss sich Frau Claudius 1907, ein kleines Mädchen in Pflege zu nehmen, dessen Mutter bei der Geburt verstorben war. Die beabsichtigte, zunächst aber aus formalen Gründen nicht mögliche Adoption erfolgte, als die Tochter Katharina (Rufname Käthe) im Konfirmationsalter war. Der leibliche Vater hat trotz der Adoption lebenslang den Kontakt zu seiner Tochter aufrechterhalten. 

Mindestens seit 1914 lebte sie mit Tochter Käthe und Schwester Else am Großflecken 7 (Gebäude auf der Klosterinsel). Sie bewohnten dort eine Doppelhaushälfte, in der sie einige Zimmer mit Beköstigung vermieteten, und zwar vorwiegend an junge Mädchen aus dem Umland, die in Neumünster eine höhere Schule besuchten oder sich in einer Ausbildung befanden. Ab wann und wie lange diese Vermietung in der Art einer Pension betrieben wurde, war nicht zu ermitteln, aber mindestens bis 1940 soll noch ein junges Mädchen bei ihnen gewohnt haben.

Man kann annehmen, dass Linny Claudius irgendwann um die vorvergangene Jahrhundertwende begann, sich für frauenrechtliche und politische Fragen zu interessieren und zu engagieren. Sowohl von den sozialistischen als auch von den bürgerlichen Frauenbewegungen wurde immer lauter und dringlicher das Recht auf gleichberechtigte Teilhabe in Gesellschaft und Politik und dabei insbesondere das Wahlrecht für Frauen eingefordert. Nach den Erinnerungen der Enkelin hatte ihre Großmutter Kontakte zu der Frauenrechtlerin Gertrud Bäumer (Vorsitzende Bund Deutscher Frauenvereine (BDF) von 1910 - 1919), wohl auch zu Helene Lange und später zu Marie-Elisabeth Lüders.
Bekannt ist, dass Gertrud Bäumer sich mehrfach in Neumünster bei Freunden aufgehalten hat. Nicht ausgeschlossen ist deshalb, dass es dabei auch zu persönlichen Begegnungen mit Linny Claudius gekommen ist. Genaueres konnte hierzu nicht mehr in Erfahrung gebracht werden, da nach Aussage der Enkelin während des Krieges alle persönlichen Unterlagen ihrer Großmutter und damit auch die Korrespondenzen in Bezug auf ihr Engagement in der Frauenbewegung und in der Politik bei einer Ausbombardierung der Familie 1944 vernichtet worden sind.

Am 28.07.1914 begann der Erste Weltkrieg.  Schon kurze Zeit später, am 21.08.1914, wurde in Neumünster ein Zentralausschuss für die Kriegsfürsorge gebildet. Dieser Ausschuss übertrug die kriegsbedingte Fürsorge für in Not geratene Familien den hiesigen Frauenvereinen. Zur Erfüllung der damit verbundenen Aufgaben richtete man ein sogenanntes „Fürsorgeamt“ ein, das aus den Vorständen und weiteren Mitgliedern der Frauenvereine bestand. Für den Frauenbund war Frau Claudius in diesem Amt vertreten; damit gibt es hier zugleich einen Hinweis auf ihr frauenrechtliches Engagement. Um die praktische (ehrenamtliche) Arbeit zu organisieren, teilte das Fürsorgeamt die Stadt in Bezirke ein, die von „Bezirksdamen“ betreut wurden. Sie gingen in Familien, stellten den jeweiligen Bedarf fest und unterbreiteten dem Amt konkrete Unterstützungsvorschläge. Einen dieser Bezirke betreute Frau Claudius neben der Vorstandsarbeit im Bereich Vicelinstraße/Kieler Straße. 

Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges am 11. November 1918 wurde noch im selben Monat die Deutsche Demokratische Partei (DDP) gegründet. Sie verstand sich als linksliberal, einer ihrer wichtigsten Parteigründer war Friedrich Naumann. Dieser Partei schlossen sich viele der führenden Frauenrechtlerinnen an, und auch Linny Claudius wurde Mitglied.  Sie engagierte sich in der DDP nach eigenen Angaben in der Vorstandsarbeit und bei den „Demokratischen Frauen“, und sie bewarb sich bei der ersten demokratischen Kommunalwahl am 02.03.1919 für die DDP um einen Sitz in der   Stadtverordnetenversammlung.  In einem im „Holsteinischen Courier“ veröffentlichten Wahlaufruf wurde sie als eine Kandidatin vorgestellt, die jahrelang in allen Zweigen der Frauenbewegung gewirkt habe. Damit findet sich hier auch ein weiterer Hinweis auf Aktivitäten in diesem Bereich. Frau Claudius gehörte der Stadtverordnetenversammlung für eine Legislaturperiode an, danach blieb sie für eine weitere Periode bis 1929 bürgerschaftliches Mitglied.  U.a. war sie in der Armenkommission, im Wohlfahrtsausschuss und im Gesundheitsausschuss vertreten.

Zeitgleich war sie von 1923 bis 1933 engagiert im Bereich der Kirche. 1924 wurde sie als Mitglied der Kirchenvertretung in die Kommissionen für Finanzen, für das Gemeindehaus und für die Gemeindepflege gewählt.

Die Tochter Käthe, die inzwischen auf Lehramt studiert hatte, heiratete im Oktober 1939 Dr. Karl Isernhagen, Bürgermeister in Salzwedel. Da er im Zweiten Weltkrieg Kriegsdienst leistete, blieb sie nach der Heirat bei ihrer Mutter wohnen. Sie promovierte 1940/42, zeitgleich wurden die Kinder Wiebke (1940) und Walter (1941) geboren. Nachdem der Ehemann 1943 gefallen war, blieb es auch künftig bei dieser familiären Situation; man war ein gemeinsamer Haushalt mit drei Frauen und zwei Kindern.

Die Zeit des Nationalsozialismus überstand Linny Claudius politisch unbehelligt. Schwer betroffen wurden sie und ihre Familie jedoch durch den bereits erwähnten Bombenangriff auf Neumünster am 25. Oktober 1944, bei dem sie total ausgebombt wurden und alles verloren. In ihrer Not half ihnen die Beziehung zur Familie eines früheren Pensionsgastes aus Homfeld (heute Teil der Gemeinde Aukrug). Bei dieser Familie und später in einer anderen Unterkunft verbrachten sie sechs schwierige Jahre. Während dieser Zeit reiste sie 1948 mit ihrer Enkelin Wiebke für mehrere Monate nach England und besuchte dort die weitläufige Verwandtschaft.
Im Juni 1950 kehrte die Familie aus dem Aukrug nach Neumünster zurück und lebte in einer bescheidenen Wohnung in der Wasbeker Straße 103.

Zwei Jahre später, am 09. Mai 1952, endete das Leben dieser bemerkenswerten Frau. Sie verstarb im 77. Lebensjahr an den Folgen eines Schlaganfalls.
Mit der Schwester Else, die bei der Stadt Neumünster als Fürsorgerin tätig wurde, blieb Frau Claudius lebenslang eng verbunden. Frau Jung verstarb 1964 im Alter von 86 Jahren.  Die Tochter, Dr. Katharina Isernhagen, verstarb 1971 im Alter von 64 Jahren.

Das Leben der Linny Claudius verlief schon sehr früh selbstbestimmt und selbstbewusst und war insoweit untypisch für die damalige Zeit. Das Herkommen aus einer besonderen familiären Situation mag ein Grund dafür gewesen sein, mit der Ausbildung zur Lehrerin einen Beruf zu erlernen, der ihr die Möglichkeit finanzieller Unabhängigkeit bot. Das Schicksal hat es dann gefügt, dass sie nur eine kurze Ehe führen konnte. Nach dem frühen Tod ihres Mannes hat sie, so kann man es deuten, ihr Leben couragiert in die Hand genommen und ist ihren ganz eigenen Weg gegangen. Sie hat auf unkonventionelle Weise eine Familie gegründet, sich gemeinnützig eingebracht und sich politisch positioniert. Es passt zu der Persönlichkeit dieser Frau, dass sie die Möglichkeiten, die sich den Frauen 1918 mit dem Wahlrecht eröffneten, sofort nutzte und politische Verantwortung übernahm. Damit wurde sie zusammen mit Marie Carstens zum ermutigenden Vorbild für nachfolgende Frauen.   

Heide Winkler
August 2021

Quellennachweis

Erste Recherchen stammen von Sighild Klamt im Zusammenhang mit der Ausstellung im Caspar-von-Saldern-Haus und im Rathaus 2014/siehe Plakat/Frauen in der Geschichte Neumünsters

Persönliches:

  1. Eigenhändiger Entwurf eines Lebenslaufs aus dem Jahr 1948/englisch,übersetzt von Walter Isernhagen
  2. Zeitungsbericht, leider ohne Datum (wahrscheinlich 1962/64), mit Foto von Absolventinnen des Lehrerinnenseminars, unter ihnen Linny Claudius.  Die Aufnahme könnte um 1910 entstanden sein.
    Anlage 1. a = Vermerk zum Foto  
  3. Vermerk vom 18.05./03 06.2019 über mehrere Gespräche mit der Enkelin Wiebke Dorothea Schneider geborene Isernhagen, genannt Linny Claudius (Name der Großmutter als Bühnenname angenommen, wird auch privat bis heute gebraucht). Von ihr stammen alle Einzelheiten zur Familie, zum Lebensverlauf etc.
  4. Kennkarte/Personenausweis vom 31. 07. 1943
  5. Registrierausweis Southampton vom 27. 08. 1948
  6. Sterbeurkunde mit Hinweis auf Eltern, Ehemann und Heiratsdatum
  7. Sterbeanzeige der Familie im HC vom 10. 05. 1952
  8. Grabstelle (historisch) auf dem Nordfriedhof (Stgr. A – XY, 19); Geburts-.u. Sterbedaten/Foto;
  9. Adressen in Neumünster
  10. Kopie aus dem Trauregister; Kirchengemeinde Nr. 1905/84; Archiv Ev.-Luth. Kirchenkreis Altholstein
  11. Kopie aus dem Sterberegister; Kirchengemeinde Nr. 1906/169; Archiv Ev.-Luth.-Kirchenkreis Altholstein
  12. Auszüge aus Akten des Archivs Ev.-Luth. Kirchenkreis Altholstein in Bezug auf die Wahl von Frau Claudius in diverse Kommissionen zu 9. bis 11. siehe auch Schriftwechsel mit Kirchenarchiv Altholstein
  13. Auszug aus „Festschrift zur Einweihung der Anscharkirche 1913“; S. 58: Pastoren Vicelinkirche, hier Hinweis auf Wilhelm Claudius, 4. Compastor 1904 - 1906

    In Bezug auf die politische Tätigkeit:
  14. Wahlaufruf der DDP im Holsteinischen Courier vom 25. 02. 1919
  15. Wahlvorschläge der Parteien für die StVOWahl am 02. 03. 1919
  16. Bericht im HC vom 30. 09. 1989 über die StVOWahl am 02. 03. 1919 in Bezug auf Frau Claudius und Frau Carstens/2 Seiten
  17. Vermerk: Deutsche Demokratische Partei; https://wikipedia.org
  18. Jahresberichte Stadt Neumünster 1922, 1928/städt. Archiv = Hinweise auf die politische Arbeit in diversen Ausschüssen

Anmerkung zur Frauenbewegung und Kriegsfürsorge

Bemerkenswert ist, dass sich Frau Claudius im Rahmen der Kriegsfürsorge trotz des Engagements ihres verstorbenen Ehemannes in der Stadtmission nicht für die hieran angeschlossene ev. Frauenhilfe einbrachte, sondern als Vertreterin eines progressiv auftretenden Interessenverbandes. Ihre Interessen waren offensichtlich eher politisch als praktisch/sozial ausgerichtet.

  • Der Hinweis auf Besuche von Gertrud Bäumer in Neumünster stammt von Marie Hinselmann/siehe deren Biografie
  • E-Mail-Anfrage beim Frauenrat in Neumünster vom 23. 02. 2019/Frau Lingelbach; Vermerk zur tel. Antwort.

Regelung der Kriegsfürsorge (1. WK):

  • „Gemeindepflege in Neumünster, Festschrift von 1915 anlässlich der 25. Wiederkehr zur Gründung der Stadtmission und Gemeindepflege 1890“ mit Hinweisen auf Pastor Wilhelm Claudius, Seiten 26, 47, Seiten 71 ff., 84 ff., 99 = Hinweis auf Kriegsfürsorge Seiten 93 ff. = Gründung Frauenhilfe
  • Kriegsfürsorge in Neumünster, „Wegweiser durch die Arbeit des Fürsorgeamtes“, August 1915:
    Seite 5   = Einrichtung des Fürsorgeamtes
    Seite 13 = Hinweis auf Linny Claudius als Bezirksdame, Beschreibung ihres Bezirks und Angabe ihrer Anschrift
    Seite 76 = Hinweis auf Zugehörigkeit im Leitungsgremium des Fürsorgeamtes, und zwar als Mitglied des Frauenbundes