Lieselotte Juckel (1919 – 2007)

Lieselotte Juckel war eine in der Kommunalpolitik Neumünsters und in der Gesellschaft jahrzehntelang aktive und engagierte Persönlichkeit. Sie kam 1946 als Flüchtling nach Neumünster, schlug hier Wurzeln und wurde im Laufe ihres Lebens für ihr Wirken mit vielen öffentlichen Auszeichnungen geehrt.  

Sie stammte aus Ragnit an der Memel (nahe Tilsit), der heute russischen Stadt Neman. Dort wurde sie am 07. September 1919 als Tochter der Eheleute Otto und Elise Trutnau geboren und wuchs zusammen mit drei Geschwistern auf.  
 
Noch während der Schulzeit trat sie 1934 als 15-Jährige in den nationalsozialistischen Bund deutscher Mädel (BDM) ein und wurde ein aktives Mitglied dieser Organisation. In der Hierarchie des BDM hatte sie den Rang einer Scharführerin und trug mit der Führung einer „Mädelschar“ Verantwortung für etwa 30 bis 45 Mädchen. Ob und welche Aufgaben sie innerhalb des BDM oder einer seiner Untergruppen nach Erreichen des 18. Lebensjahres (Ende der Zugehörigkeit in der Mädelorganisation) wahrnahm, bleibt unklar, die Mitgliedschaft endete nach ihren Angaben 1942.

1936, nach der Schulzeit, begann sie eine dreijährige Verwaltungsausbildung bei der Stadt Ragnit. Sie blieb jedoch nicht lange in dem erlernten Beruf. Nach einer kurzzeitigen Tätigkeit als Berichterstatterin für die regionale Zeitung „Memelwacht“  absolvierte sie 1940 eine dreimonatige Ausbildung zur Schulhelferin  an der Hochschule für Lehrerausbildung (HfL) in Lauenburg/Ostpommern und trat anschließend eine erste Anstellung als Lehrkraft an einer Volksschule in Kallenfeld/Kreis Pillkallen an. Bei der HfL handelte es sich seinerzeit um eine an der NS-Ideologie ausgerichtete Einrichtung zur Ausbildung von Lehrkräften an Volksschulen. In diese Zeit fiel im Alter von 22 Jahren die Eheschließung mit dem drei Jahre älteren Kurt Juckel; im Oktober 1941 wurde das erste Kind geboren. Sie lebte jetzt in Tilsit, während sich der Ehemann in der Nähe von Königsberg als Angehöriger der SS im Einsatz befand.

In der Zeit vom 15. Juni 1942 bis 15. März 1943 besuchte Frau Juckel zur weiteren Ausbildung als Lehrerin erneut in Lauenburg/Ostpommern die o.a. Lehrerbildungsanstalt (umgewandelte HfL), durchlief einen neunmonatigen Lehrgang und schloss mit einer Lehrerinnenprüfung ab. Auf Grund der Kriegsereignisse und der Notwendigkeit, für ihr Kind sorgen zu müssen, ist sie jedoch nicht im Schuldienst tätig geworden.  

Im Sommer 1944 musste die Bevölkerung aus dem durch Großangriffe bombardierten und schwer bedrängten Tilsit evakuiert werden. Wegen des weiteren Kriegsverlaufs und des Vorrückens der russischen Front wurde schließlich ein Verbleiben in der Heimat Ostpreußen unmöglich. Für Lieselotte Juckel und ihren dreijährigen Sohn begann im Januar 1945 eine gefahrvolle und dramatische etwa fünfmonatige Flucht, die nach vielen Zwischenstationen vorerst in Bayern bei Verwandten endete. Hierüber und über die folgende Zeit bis 1948 berichtet sie ausführlich in ihren 1978 niedergeschriebenen Erinnerungen „Neumünster, Stunde Null, Ein Kapitel erlebte Vergangenheit“. Der Erinnerungsband befindet sich im Bestand der Stadtbücherei.  

Mit Kriegsende hatte es den Ehemann nach Schleswig-Holstein verschlagen; Anfang 1946 geriet er in britische Internierungshaft. Frau Juckel war inzwischen mit dem Kind von Bayern nach Neumünster gekommen und fand Unterkunft auf einem Hausgrundstück in Wittorf, das ihr Mann noch vor seiner Internierung gekauft hatte.

Trotz aller Widrigkeiten fand sie sich schnell in die veränderten Verhältnisse ein und knüpfte Kontakte zu ihrem neuen Umfeld in Wittorf. Schon im Sommer 1946 und dann in den folgenden Jahren organisierte sie Kinderfeste zusammen mit dem Wittorfer Kleingartenverein. Zeitgleich entstand auch die Verbindung zum damaligen Stadtjugendpfleger Hannes Weiß, der bei der Organisation und Durchführung von Erholungsfreizeiten für Kinder Unterstützung brauchte. Lieselotte Juckel war sofort dabei. Sie engagierte sich auf Jahre in der 1946 gegründeten Zeltlagergemeinschaft e.V. und in der Betreuung der Zeltlager an der Ostsee. Viele Neumünsteraner/-innen, die als Kinder an diesen Freizeiten teilnahmen, verbinden damit unvergessliche Erlebnisse. Aus der Arbeit in der Zeltlagergemeinschaft heraus ergaben sich dann auch Aktivitäten im Ortsausschuss für Jugendpflege und später im Kreisjugendring.  
 
Ende März 1947 erfolgte die Entlassung des Ehemannes aus der Internierungshaft.  Nachdem die laufenden Entnazifizierungsverfahren der Eheleute Mitte 1948 abgeschlossen waren, begannen sie endgültig in Neumünster Fuß zu fassen. Auch hierüber berichtet sie in ihren Erinnerungen (s.o.).

Inzwischen wuchs die Familie: Ende 1947 wurde eine Tochter geboren, 1949, 1958 und 1962 folgten drei weitere Söhne. Frau Juckel hätte also ausgelastet sein können mit ihren fünf Kindern, zumal sie gleichzeitig ihrem Mann beim Aufbau der Firma „Farben-Juckel“ in der Kieler Straße zur Seite stand (Anmerkung: Diese Firma wird heute in der dritten Generation an einem anderen Standort in Neumünster weitergeführt). Trotz dieser Herausforderungen besaß sie jedoch genug Kraft, Ideen und Freude, um sich politisch als Ratsfrau für die CDU zu engagieren und in unterschiedlichen Bereichen ehrenamtlich tätig zu werden. Eines ihrer Anliegen war, sich für die Rechte und Interessen von Frauen und Familien einzusetzen; u.a. gründete sie 1978 den Frauenrat in Neumünster. Im Einzelnen sind ihre Aktivitäten in der Übersicht am Ende dieses biografischen Textes aufgeführt.

Bis 1951 lebte die Familie in Wittorf, danach in den Stadtteilen Tungendorf und Einfeld. Zuletzt war ab 1988 das Zuhause in der Innenstadt auf dem Großflecken.  
 
Ein prägender Teil ihres Lebens war die Verbundenheit zur verlassenen Heimat in Ostpreußen. 1990 nahm sie nach den Grenzöffnungen sehr schnell Kontakt auf zu den offiziellen Stellen in Ragnit. Als Erstes kümmerte sie sich um dringend benötigte Hilfslieferungen (Lebensmittel, Ausstattungsstücke für öffentliche Einrichtungen etc.). Ihre Kinder berichten, dass die Mutter mehr als 30 Hilfstransporte per Lkw in das 1400 Kilometer entfernte Ragnit organisierte und diese Transporte vielfach auch selbst begleitete. Später bemühte sie sich um den Erhalt historischer Bauten. Außerdem ließ sie dort ein kleines Haus bauen, das in jener Zeit, so erzählen es die Kinder, zu einer Stätte der Begegnung wurde; es befindet sich heute im Besitz der Stadt Neman. Die Patenschaft der Stadt Preetz mit Neman/Ragnit geht ebenfalls auf ihre Vermittlung zurück.

Für die Verdienste, die sie sich um ihre Heimatstadt erworben hat, wurde sie am 07. April 1998 mit der Verleihung der Ehrenbürgerschaft ausgezeichnet.

Frau Juckel verstarb in ihrem 88. Lebensjahr am 22. März 2007, der Ehemann war bereits im Jahre 2000 verstorben. Mit ihrem Tod vollendete sich ein engagiertes Leben.

Bei Kriegsende war sie 25 Jahre alt. Sie nahm nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes, in das sie sich überzeugt eingebracht hatte, den Erfahrungen des Krieges, der Flucht und seiner Folgen die Herausforderungen des Neubeginns aktiv an. Es folgten rund 62 Jahre demokratisches politisches Leben, verbunden mit vielseitigem gesellschaftlichen Engagement. Hierfür erhielt sie diese öffentlichen Ehrungen:

  • 1972 Freiherr-vom-Stein-Medaille des Landes Schleswig-Holstein  
  • 1980 Verdienstkreuz am Bande des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland     
  • 1997 Ehrennadel in Silber der Landsmannschaft Ostpreußen
  • 1998 Ehrenbürgerschaft der Stadt Neman
  • 2002 Caspar-von-Saldern-Medaille der Stadt Neumünster 

Übersicht über das politische und ehrenamtliche Engagement:

  • 1946 Organisation von Kinderfesten in Wittorf
  • ab 1946 Mitgliedschaft und Mitarbeit in der Zeltlagergemeinschaft e.V.; Betreuung von Kinderfreizeiten an der Ostsee; Leitungsaufgaben  
  • in dieser Anfangszeit u.a. Mitarbeit im Ortsausschuss für Jugendpflege und im Kreisjugendring
  • ab 1946 Beratungsstunden für Flüchtlingsfamilien; aus dieser Arbeit entstand der „Bund der Kinderreichen“, den Lieselotte Juckel 20 Jahre leitete (den Verein gibt es in dieser Form heute nicht mehr). In Zusammenarbeit mit dem Siedlerbund wurde u.a. Flüchtlingen geholfen, Kredite für Hausbauten aus öffentlichen Mitteln zu beantragen.
  • ab Ende der 1940er Jahre Gründungsmitglied in der Landsmannschaft das Ostpreußen (später Ost- und Westpreußen), deren Leiterin sie lange Zeit war
  • 1947 Eintritt in die CDU; Gründungsmitglied
  • Ratsfrau vom 09. Februar 1959 bis 24. Oktober 1959 sowie vom 03. September 1962 bis 04. März 1978; insgesamt rd. 16 Jahre
  • 1978 Gründerin des Frauenrates (Dachverband der Frauenverbände in Neumünster); Vorstand bis 1993;
  • In den 70er Jahren Organisation von Seminaren für Frauen zur Wiedereingliederung in den Beruf nach Familienzeiten („Neuer Start ab 35“)
  • 15. April 1980 Gründerin des Betreuungsdienstes im Friedrich-Ebert-Krankenhaus und dessen Leitung bis 1995; danach noch gelegentliche Mitarbeit
  • 1985 bis 1996 Redakteurin für den von der Kreisgemeinschaft Tilsit-Ragnit e.V. herausgegebenen Heimatrundbrief „Land an der Memel“
  • Mitinitiatorin zur Einrichtung eines „Frauenhauses“
  • Schöffin am Amtsgericht Neumünster (acht Jahre) und ehrenamtliche Richterin am Verwaltungsgericht Schleswig (16 Jahre)
  • Organisation und Leitung von Reisen speziell für Frauen (auch ins Ausland)

Außerdem war sie engagiert durch Mitgliedschaften und Mitarbeit:

  • im Bürgerverein zu Neumünster e.V. über 20 Jahre lang
  • bis in die 1980er Jahre in der Organisation von Weihnachtsfeiern für Bürger der Stadtteile Wittorf und Einfeld sowie in der „Reichshalle“;
  • in der Deutschen Gesellschaft für staatsbürgerliche Familienberatung (DGF)/in den 1970er Jahren (gibt es so heute nicht mehr)
  • in der Verbrauchergemeinschaft seit den 1960er Jahren, und zwar u.a. mehr als 20 Jahre als 2. Vorsitzende
  • im Hausfrauenbund/existiert heute nicht mehr in Neumünster
  • im Staatsbürgerinnenverband e.V.
  • in Elternbeiräten an verschiedenen Schulen

Heide Winkler
März 2021

Quellennachweis

  1. Lieselotte Juckel: „Neumünster, Stunde Null, Ein Kapitel erlebte Vergangenheit“, 1978, Erinnerungen; im Bestand Stadtbücherei  
  2. Zusammenstellung biografischer Daten/Angaben anlässlich der Ausstellung „Frauen in der Geschichte Neumünsters“ am 08.03.2014 – Arbeitsgruppe unter der Leitung Sighild Klamt und Gleichstellungsstelle
  3. Berichte im Holsteinischen Courier aus Anlass des 70., 80. und 85. Geburtstages
  4. Berichte im Holsteinischen Courier in Bezug auf den Frauenrat
  5. Bericht Holsteinischer Courier über Zeltlagergemeinschaft e.V./Bericht vom 06.08.2013 „Urlaub an der Ostsee für 30,00 DM“
    www.shz.de/lokales/holsteinischer-courier += nicht ausgedruckt
  6. Jahresberichte/Magistratsunterlagen Stadt Neumünster in Bezug auf die Ratszugehörigkeit = siehe gesonderten Ordner
  7. Verleihungsurkunden = Fotografien im PC Winkler  
  8. Anzeigentext im HC anlässlich des Todes = zur Vfg. gestellt von Stadtsprecher Beitz
  9. Text des Kondolenzbriefes OBM Unterlehberg = dito
  10. Grabsteine Lieselotte und Kurt Juckel = Internet
  11. Harald Juckel: „….und keine Stunde bereut“, 2005, BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt; Seiten 5, 8, 89 – 98; im Bestand Stadtbücherei
  12. Todesanzeige Harald Juckel; Geburts- und Todesdatum (16.12.2011) / Internet / Wikipedia unter Namenseingabe
  13. Auskünfte und Beiträge der Familie in Bezug auf persönliche Daten, Familiäres und verschiedene Aktivitäten der Mutter, u. a. Aktivitäten im Zusammenhang mit Ragnit, Schöffen- und ehrenamtliche Richtertätigkeit, Arbeit in Elternbeiräten, Organisatorin von Reisen
  14. Firma Farben-Juckel – siehe Internetauftritte
  15. Akte Landesarchiv, Abt. 460.21, Nr. 435
  16. Wikipedia: Bund Deutscher Mädel
  17. „Memelwacht“: zdb-katalog.de; Regionalzeitung, zugleich Verkündungsblatt der NSDAP
  18. Wikipedia: Erziehung im Nationalsozialismus, Lehrerbildung
  19. Wikipedia: Hochschule für Lehrerbildung
  20. Wikipedia in Bezug auf Tilsit/Evakuierungen
  21. http://wiki-de-genealogy.net/Ragnit; hier Angaben zur Ausbildung; zur  Patenschaft Preetz;  zur Ehrenbürgerschaft. Diese Seite gehört zum Portal Tilsit-Ragnit und wird von der Familienforschungsgruppe Tilsit-Ragnit betreut. Auf der Wikipedia-Seite zur Stadt Ragnit ist Frau Juckel nicht verzeichnet.
  22. Tilsit Stadt und Land: Kreisgemeinschaft Tilsit-Ragnit; in Bezug auf die Tätigkeit als Redakteurin beim Heimatbrief „Land an der Memel“